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Seit über einem Jahr schreibe ich nun. Der Grund dafür ist, dass ich mich auf diese Weise selbst therapieren kann, um mir diesen lähmenden Schmerz wenigstens etwas erträglicher zu machen, denn wegzudenken ist er nicht, ich kann ihn nur verändern. Beim Schreiben gehe ich auf Entdeckungsreise. Mein Sohn, der nun auf andere Weise an meiner Seite ist, hilft mir dabei von Anfang an. Daraus ziehe ich die meiste Kraft. Nichts ist stärker als die Liebe. Alles, was ich tue, tue ich durch sie, für sie und mit ihr. Sich aus dem Dunkel herauszuwinden, ist ein schwerer, aber befreiender Weg. Niclas zeigt mir, wie es geht.

Die erste Reaktion, die anfangs von Mitmenschen gut gemeint geäußert wurde, wenn sie mit unserem Leid konfrontiert wurden, war oft diese: "Oh, das ist ja erschütternd, damit kann man sicher nicht alleine fertig werden. Ihr müsst Euch so schnell wie möglich professionelle Hilfe suchen! Habt Ihr denn schon einen Therapeuten?"

Nein, einen Therapeuten hatte ich nicht und wollte ich auch nicht haben - vielleicht, weil ich schon ahnte, dass die Suche nach passender seelischer Unterstützung nicht so leicht fallen würde bei meinen Ansprüchen, die daher rührten, dass mein Weltbild kein gängig atheistisches ist, und ich mir eingestehen musste, dass ein nüchterner Materialist mit angelernten Floskeln mir niemals helfen könne. Ich konnte niemanden beratend an mich heranlassen, der an den Tod und das Ende unserer Existenz mit dem Ableben des Körpers glaubte, davon abgesehen, dass man die Trauer um das eigene Kind niemals wegtherapieren kann. Im Gegenteil! Ich hatte das Gefühl, hier dürfe nichts weggemacht, sondern es müsse eher etwas hinzuerklärt werden, damit ich je Trost finden könne. Heil heißt ganz. Wenn etwas fehlt, muss etwas ergänzt werden. Ich wähle immer die ganzheitliche Sicht, um meiner (und damit seiner) Seele näher zu kommen. Ich wollte nicht loslassen, sondern das Band wiederfinden, dass ich verloren gegangen glaubte. Nur so würde ich trotz gefühlter Amputation und seelischer Schwerstbehinderung noch an eine lebbare Zukunft glauben können.     

Nur welcher Therapeut hätte mit Erklärungen geben können? Davon abgesehen, dass das nicht der Sinn einer Therapie ist, wie ich nun weiß. Ein Therapeut kann helfen, den Horizont zu erweitern, damit der Klient neue Gedanken in Betracht zieht, die er in sein Denken einfließen lassen kann, um bisherige starre Muster aufzulösen und den Platz frei zu machen für neue Lösungen. Bei mir musste nichts erweitert werden. Die Tore standen weit offen und jegliche Grenzen lösten sich auf, so dass wohl jeder Therapeut eher verwundert gewesen wäre in Anbetracht der Fülle der Möglichkeiten, denen gegenüber ich mich nicht verschloss. Was in diesem Jahr in mich hinein floss, davon machen sich die wenigsten Menschen einen Begriff. Spiritualität muss man suchen und sich von ihr finden lassen. Sie kann nicht beigebracht werden, und keiner kann einen in ihre Nähe führen, der dieses Feld nicht schon selbst entdeckt hat. Auch ein Therapeut ist nur ein Wegbegleiter. Er weiß nichts von unserem Schmerz. Selbst, wenn er ebenfalls Verluste erlebt haben sollte, steckt er nicht in unserer Haut und weiß nicht, wie schwer oder leicht uns dieser oder jener Schritt fällt. Seine Aufgabe ist es, andere, neue Wege des Denkens aus uns herauszukitzeln. Aber wenn die neuen Wege so gar nicht in seinen Horizont passen, kann auch er nur staunend daneben sitzen und sich eher von uns führen lassen als umgekehrt. So erging es unserem Kinder- und Jugend-therapeuten, der gleich zu Anfang  ganz ehrlich sagte, dass er mit diesem Thema überfordert sei, weil er so etwas bei sich nicht kennen würde. Das fand ich sehr ehrlich und offen, obwohl es mich auch wunderte, dass man gerade da am Ende seines Lateins zu sein scheint, als wäre der Tod eine seltene Krankheit.

Ich brauchte Boden unter den Füßen und eine Perspektive, und das konnte ich nur in mir selbst erschaffen. Wie ich später herausfand, lag ich nicht falsch mit der Annahme, die Lösung besser durch mich selbst und in mir selbst - und auch nur da - finden zu können. Es war gut so, dass ich mir niemanden suchte. Es kam einfach für mich in diesem Moment niemand in Frage außer meinen geistigen Helfern, die mich mit Inspiration versorgten. Auch wenn man denken könnte, dass die esoterische Lebenshilfe eine Alternative geboten hätte, so muss ich sagen, dass ich schon nach dem Tod meines Vaters damit schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Kommerziell esoterische Spinnereien sollen oft nur den Gegenpol bilden zum materialistischen Weltbild und sind meist auch nicht reflektierter oder hilfreicher, sondern genauso limitiert und militant wie Rechts und Links. Vielleicht ist das so, weil oft die äußere materielle Bereicherung als Intension dahinter steht und nicht die innere geistige. Wenn man nicht selbst hineinwächst in seine Überzeugung, hat sie keinen Wert. Und wenn man nicht hineingewachsen ist, hat man auch nicht das Verständnis dafür, dass wahre Erkenntnis nicht vermarktet werden kann. Sie muss wie das Licht von offenem Geist empfangen werden und sucht sich seinen Wege zum Empfänger selbst. Man kann sie nicht kaufen, und demnach auch nicht verkaufen. Wenn man eine Arbeit findet, in der man seine eigenen gewonnenen Erkenntnisse anwenden kann, dann kann man sein Licht für sich und andere nutzen. Licht ist Liebe, und Liebe möchte ausgedrückt werden. Wenn sie ehrlich und echt ist, findet sie ihre Ausdrucksmöglichkeit. Wenn ich den Menschen, dem ich Lebenshilfe anbiete, nicht liebe, bzw. akzeptiere oder anerkenne,  sondern nur ein Geschäft mit ihm machen möchte, funktioniert meine angebotene Hilfe nicht, weil keine Verbindung hergestellt werden kann, auf der heilsame Energie fließt.

Und die Kirche? Selbst sie konnte mir keine stimmigen Erklärungen liefern, obwohl ich ganz und gar nicht ungläubig bin. Mein Glauben entstand aber aus mir selbst heraus, er folgte keinen Vorgaben. Hatte ich nur nicht verstanden, was die eine oder andere Lehre ausdrücken wollte? Ich muss zugeben - hätte ich damals das Wissen von heute gehabt, hätte ich vielleicht schon jemanden finden können, der mich gut geleitet hätte, weil ich gewusst hätte, wonach ich suchen musste. Aber es wäre eine doppelte Suche gewesen – eine nach dem passenden Begleiter und eine nach mir selbst. Diesen Umweg machte ich nicht, denn das eine schloss das andere aus. Erst, wenn man sich selbst gefunden hat und weiß, was man will, kann man beurteilen, ob ein Begleiter der Richtige für einen ist. Andererseits muss man ja erst zu sich selbst geführt werden. Wo fängt man also an? Schwierige Angelegenheit! Manchmal gibt es einfach keine allgemeingültigen Antworten.

Ehrlich gesagt hatte ich auch keine Kraft und keinen Nerv dafür, lange auszuprobieren, wer mir gut tut. Deshalb probierte ich lieber aus, was mir gut tut. Da ich von vorn herein spürte, dass ich nur klar komme, wenn ich über den Tellerrand schaue, und gleichzeitig merkte, dass mir das glücklicherweise nicht schwer fällt, konnte ich mir selbst viel geben, indem ich ausbaute, was möglich war. Was ich mir von außen holen konnte, waren andere Stützen. Es tat mir gut, Bücher zu lesen, in denen sich Menschen Gedanken über den Tod machten und ihre erlebten Gefühle beschrieben. Die Auseinandersetzung mit den Berichten anderer Betroffener, die ich niemals zuvor gelesen hätte, gaben mir das Gefühl, nicht alleine zu stehen und die Gewissheit, dass ein Sinn dahinter stehen muss. Ohne Zwang konnte ich mir anschauen, wie andere damit umgehen und für mich herauslesen, was mir entsprach und sich mit meinen eigenen Erfahrungen und Meinungen deckte. Das bereicherte mich, unterstütze es doch meine Innenschau durch Impulse von außen. Viele Gedanken waren auch meine und es war gut, zu erfahren, dass auch andere in dieselbe Richtung dachten. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der psychische Halt, den ich durch die Unterstützung meiner Familie und mitfühlender Freunde erhielt (bzw. natürlich noch erhalte) und dringend benötige, um stabil meinen Kurs fahren zu können. Ohne sie wäre es nicht gegangen und geht auch heute noch nichts. Auch wenn sie mir bei meiner Suche nicht helfen können, ihre Liebe gibt mir Kraft. Letztendlich war alles richtig so, wie es war, denn ich verstehe nun die Hintergründe therapeutischer Erkenntnisse, weil ich sie bei meiner Eigentherapie selbst entdeckt habe.

Inzwischen habe ich ganz unerwartet eine wundervolle Ansprechpartnerin gefunden, ohne sie aktiv im Internet oder Telefonbuch gesucht zu haben. Sie ist mir quasi zugelaufen, als ich geistig um Beistand bat, weil meinen Gedankengängen niemand mehr folgen konnte. Sie versteht ohne Worte. Niclas hat sie mir geschickt, als ich nicht mehr weiter wusste und den Austausch mit mehr Weite und Tiefe auf höherer Ebene suchte. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass ich doch besser voran komme, wenn mir jemand Kompetentes zur Seite steht. Zufällig ist sie Therapeutin und Trauerbegleiterin mit Herz und eigener Herzschmerz-erfahrung zur Genüge. Für mich ist sie aber in erster Linie eine ganz wichtige Freundin. Durch sie bekomme ich Denkanstöße, die ich sonst nicht an Land gezogen hätte - jedenfalls nicht so schnell. Aber auch ich gebe viele neue Impulse in diese Freundschaft hinein, und so ist der Austausch fruchtbar. Nicht nur sie, sondern auch andere neue Freunde und inzwischen sogar der richtige Pfarrer mit einem gesunden Bezug zur Spiritualität stehen mir nun zur Seite und bereichern mein Leben. Die passenden Menschen, denen ich mich wirklich anvertraut hätte, fand ich also erst, als ich mir selbst schon die gesuchte Hilfe geben konnte. Wie oft schrieb ich in meinen Texten, dass die Außenwelt nur der Spiegel unserer Seele ist? Deshalb kann ich dort immer nur das finden, was ich in mir selbst schon gefunden habe.Was wir selbst in uns spüren, damit gehen wir in Resonanz und ziehen es in unser Umfeld. Auch Wünsche erfüllen sich so. Wurden sie einmal gedacht, dann ist die Verbindung zur Realisierung hergestellt, man muss sie nur noch für möglich halten, um sich für den Empfang zu öffnen. Hier scheitert es oft. Es sollte von daher mein Weg sein, nach innen zu schauen, um die eigenen Ressourcen zu erkennen. Die Menschen, die wir um uns haben, sind zum Austausch und zur Reflexion gedacht. Wir können und dürfen nicht von ihnen absaugen, was wir in uns nicht tragen. Wenn ich eines auf meinem Weg gelernt habe, dann ist das die Nutzung der geistigen Gesetze. Ohne sie funktionieren die physischen nicht. Ihnen kann ich vertrauen. Meine Hilfe kommt von innen, was dasselbe ist wie “von oben”. Damit bin ich in den Augen der meisten, die keine solchen Verluste kennen, einen eher ungewöhnlichen Weg gegangen, aber nur dieser brachte mir alle Erkenntnisse, die ich niederschreibe. Ich habe dadurch verinnerlichen können, dass Ratschläge von außen nichts bringen. Wir können uns immer nur selbst helfen, und holen wir uns fremde Hilfe, dann darf es nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Die Lösung steckt in uns. Wir nennen dieses Antwortfeld aufgrund der Unbegrenztheit “Himmel”. Alles ist da und will wiedergefunden werden – von jedem auf seine Weise.   

Langsam kann ich verstehen, warum viele Therapeuten bei diesem Thema scheitern müssen und es nur ganz wenige gibt, die den Hinterbliebenen eine echte Stütze sein können. Genauso, wie es verschiedene Arten von Trauer gibt, gibt es auch unterschiedliche Therapiemethoden, die im jeweiligen Falle entweder helfen können oder eben an ihre Grenzen stoßen. Ich unterteile die Trauer deshalb in zwei große Kategorien von Schweregraden, um aufzuzeigen, dass gängige psychotherapeutische Ansätze nicht mehr greifen, sobald es um den Tod eines Kindes geht. Fehlt uns das Verständnis für einen tieferen Sinn und eine größere Wahrheit dahinter, gibt es keine Perspektive, und dementsprechend auch keine seelische Entlastung. Die Methoden, die wir uns aneignen, um dann zu deckeln, tragen uns immer nur kurz. Es ist ein Hangeln von Insel zu Insel, um nicht zu ertrinken. Festes Land kann es nicht geben. Leider wird diese Tatsache von den wenigsten studierten und promovierten Psychologen oder Psychotherapeuten erkannt. Sie arbeiten nach Schublade X / Schema F , aber das funktioniert im Falle des Kindstodes nicht. Was habe ich darüber schon Bücher mit hanebüchenen Ratschlägen gelesen! Was wurden mir schon für Geschichten erzählt von Betroffenen, die einen solchen Therapeuten aufgesucht haben! Erst, wenn sie selbst vom Wissen ins Fühlen geschickt werden, wie z.B. der Psychotherapeut und Autor Roland Kachler, dessen Sohn ebenfalls mit 16 Jahren tödlich verunglückte, wird der Blick verändert. Er hat die richtigen Schlüsse daraus gezogen und seine Therapiemethoden grundlegend verändert. Auch er war vorher anders unterwegs, wie er selbst schrieb. Seine Bücher kann ich nur empfehlen.

                                                         

Ohne einen ähnlichen Weg schon einmal selbst gegangen zu sein, kann scheinbar nur selten eine gute Begleitung stattfinden. Es fehlt eben die Ortskenntnis. Man kann zwar gelernt haben, mit Karte und Kompass umzugehen, um sich auch in fremden Gefilden theoretisch zurechtzufinden, aber wenn man sich nicht selbst hinein begeben hat in diesen Dschungel, sondern nur aus der Entfernung leitet, fehlt einfach die Praxis und der Bezug. Man sieht es oft in Firmen. Diejenigen, die in der Chefetage sitzen und die Entscheidungen treffen, treffen sie deswegen meistens falsch, weil sie sich nicht von unten hochgearbeitet haben und deshalb gar nicht wissen, was dort vor sich geht, welchen Schwierigkeiten man begegnet, und womit man täglich zu kämpfen hat. Von außen sieht alles einfacher aus. Was hilft das Wissen aus Studienbüchern, wenn man nicht selbst gefühlt hat? Wer das Tal der Trauer nicht kennt, kann noch so viel darüber gelesen oder gehört haben. Die Qualifikation mag zwar vorhanden sein, aber es mangelt an Kompetenz. Für mich persönlich war deshalb der richtige Weg, nicht jemanden zu suchen, der weiß und nicht fühlt, sondern mir das Wissen zum erlebten Fühlen selbst anzueignen. Die Kombination von beidem ist der Schlüssel.                              

So ein Kindsverlust ist wie ein Quantensprung oder Umzug vom engen Talstädtchen auf die Berghütte. Man wird zwangsläufig in eine andere Realitätsebene und damit in ein anderes Bewusstsein katapultiert. Plötzlich steht man dort und muss lernen, sich zurechtzufinden. Es gibt nur noch wenige Menschen in dieser einsamen Gegend, die entweder auch dort leben oder einen zumindest besuchen, weil sie ein echtes Interesse daran haben, ebenfalls verstehen zu wollen. Nur sie können mit uns den neuen Blick teilen. Vom Dorf aus lassen sich die Gipfel nun einmal nicht so gut beschreiben. Das Gefühl, oben zu sein, ist ein völlig anderes, und wird von jedem unerfahrenen Bergwanderer auf seine Weise wahrgenommen. Die einen staunen, die anderen sehen nur noch Nebel und die meisten haben Höhenangst. Von daher ist für mich ein guter Therapeut ein Bergführer. Mag sein, dass anderen Menschen ausreicht, im Tal begleitet zu werden, aber werde ich in eine andere Realität versetzt, was bei Kindstod zwangsläufig der Fall ist, dann brauche ich jemanden, der sich an dem neuen Ort auskennt. Talerfahrungen bringen da wenig.                          

Musikalisch ausgedrückt hört sich das Leben eine Oktave höher einfach anders an, so dass auch Probleme anders klingen, obwohl die Musik dieselbe ist. Man kann auch sagen, alles erscheint in einem anderen Licht. Genau aus dieser Ebene heraus betrachtet muss die Trauerbegleitung stattfinden, damit sie wirksam ist. Ist der Begleiter noch woanders, kann er keine Hilfestellung leisten. Das gilt auch für Freunde. Man denkt nicht mehr in alten Mustern. Die Tür zu einem neuen Klassenzimmer wurde aufgestoßen, und das muss realisiert, angenommen und neu gelebt werden.​ Auf einer anderen Ebene angekommen organisiert sich das Leben zwangsläufig ganz neu – andere Werte, andere Menschen, andere Räume. Bei anderen Verlusten passiert das nicht unbedingt, denn sie hebeln die Welt nicht so aus, sondern geben nur den natürlichen Lauf der Dinge wieder, auf die wir eingestellt sind. Zu dieser Kategorie der "normalen" Todesfälle zähle ich diejenigen, die verarbeitet werden können. Sterben die Großeltern oder Eltern, ist das auch sehr schlimm, aber wir sind darauf vorbereitet. Deshalb ist es uns auch irgendwann möglich, mit diesem Verlust umzugehen und weiterzuleben. Unser Weg geht weiter vorwärts. Bestenfalls haben wir, wenn es passiert, unsere eigene Familie gegründet und sehen in unseren Kindern die Zukunft. Stirbt der Ehepartner vor uns, ist auch das furchtbar. Man kann aber auch hier lernen, wieder Kraft in sich selbst zu finden, um sich dem vorherigen Leben neu zuzuwenden, so dass es einem nach einer bestimmten Zeit wieder möglich ist, andere Beziehungen einzugehen, die das Leben genauso bereichern können, wie die alte. Das frühere Lebensgefühl kann wiederkehren und ein neuer Weg aufgenommen werden. Ob Großeltern, Eltern oder Freunde - die Trauer geht vorüber und eine glückliche Zukunft steht zumindest in Aussicht, weil andere, liebe Menschen einem helfen können, zu kompensieren, was fehlt. In der Therapie oder Begleitung geht es hier tatsächlich vorrangig darum, zu lernen, den Tod zu akzeptieren und dadurch in gewisser Weise den Verstorbenen loszulassen. Ist sie erfolgreich, kann man das alte Kapitel zugeschlagen und sich einem neuen Abschnitt in diesem Leben zuwenden. Die Zukunft ist nicht mitgestorben.     

    

Aber was ist, wenn das eigene Kind stirbt? Ein Kind kann man sich nicht neu backen. Niemand kann das eigene Fleisch und Blut auch nur ansatzweise ersetzen oder ausgleichend wirken. Man geht einfach ein Stück mit in diese andere Welt, als wäre man in einer Wendeschleife, und der Weg vorwärts führt nur zurück zum Ursprungsort. Ich betrachte dieses schlimme Schicksal als absoluten Sonderfall, den man nicht mit herkömmlichen Methoden in den Griff bekommen kann, denn unser Lebensinhalt fällt weg und die Brille, mit der wir bisher unsere Welt anschauten, hat einen Sprung. Es gibt keine natürliche Erklärung für das Geschehene, die in unser irdisches Weltbild passen könnte. Uns entzieht sich der Sinn. Wir sind in einer Sackgasse gelandet und können an diesem Wendepunkt nur noch umdrehen. Weiter ins irdische Leben hinein geht es nicht mehr. Ab jetzt geht es zurück in eine geistige Ebene, die uns Erklärungen bietet. Bisher meinten wir, uns zurechtzufinden in diesem Leben, zu wissen wie es tickt und was man tun kann, um es sich so angenehm wie möglich zu gestalten, aber plötzlich ist alles anders - sind wir orientierungslos und bleiben es auch, solange wir an der alten Realität festzuhalten versuchen. Sie kann uns keinen sicheren Halt mehr bieten, denn sie hat das Unmögliche möglich gemacht und könnte es immer wieder tun. Damit haben wir ganz und gar nicht gerechnet, und das ist der große Unterschied zur normalen Trauer, die unsere Welt nicht auf Dauer so krass verändert. Der Tod eines Kindes ist etwas Besonderes, weil er unsere Welt auf den Kopf stellt. Deshalb muss auch anders mit ihm umgegangen werden. Woran können wir uns noch klammern? Es kann nur etwas völlig Neues - sprich eine neue Bewusstseinsebene sein, auf die wir uns einschwingen müssen, wenn wir weiterleben wollen, denn genau dort hin hat uns der Schmerz getragen – vom Kindergarten in die Schule. Waren wir vorher noch relativ unbeschwert, so können wir das jetzt nicht mehr sein. Dafür erfahren wir jetzt immer mehr über die Zusammenhänge. Sind wir einmal dort angekommen, dass wir verstehen, wird es auch wieder leichter und die Unbeschwertheit kehrt zurück, nur auf andere Art. Leben entwickelt sich zyklisch uns spiralförmig. Wer nicht an einen höheren Sinn glaubt, der glaubt an gar nichts mehr, er ist einfach sinnbildlich von der Scheibe gefallen. Als aufgeklärte Menschen meinen wir zwar, schon lange zu wissen, dass wir nicht auf einer Scheibe leben, aber aus unseren Verhaltensmustern haben wir es meist noch nicht herausgelöscht bekommen. Darum fällt es uns auch doppelt so schwer, mit diesem Schmerz umzugehen. Krampfhaft versuchen wir, uns wieder zurechtzufinden, aber die alten Freunde und Gewohnheiten können nur Stütze sein, wenn sie mitgehen, und das können sie nur, wenn auch sie sich von uns transformieren lassen. Haben wir es nämlich geschafft, auf der neuen Bewusstseinsebene die Augen zu öffnen, ist die Scheibe endlich keine Scheibe mehr, sondern die Kugel, von der wir zwar wussten, aber die wir noch nicht fühlen konnten. Wollen wir in uns klarer werden, müssen wir unsere Fragen nicht nur beantwortet bekommen, sondern die Antworten auch leben. Erst dann verinnerlichen wir das Geschehen und werden bewusst, statt nur blind zu existieren wie Tiere. Das ist ein Wachstumsprozess, der seine Zeit braucht und viel Geduld von beiden Seiten benötigt - von den Betroffenen genauso, wie von dem nicht betroffenen sozialen Umfeld. 

Erst einmal fühlen wir uns allein gelassen wie ein Schüler in einer neuen Klasse. Zurück können wir nicht mehr, weil es uns einerseits nichts mehr gibt und es andererseits schmerzt, wenn wir es versuchen. Vielleicht ist das sogar gewollt, damit wir vorwärts gehen, ohne zurück zu schauen. Mir ist nämlich aufgefallen, dass alle Aktivitäten, die mit meinem neuen Leben zu tun haben, für mich relativ gut bewerkstelligt werden können, ohne dass dabei immer dieser vernichtenden Schmerz in den Vordergrund tritt. Treffe ich auf Menschen, die mich den ganzen Weg lang in meine neue Welt begleitet haben, oder die ich erst danach neu kennengelernt habe, fühle ich mich sicher. Dagegen werden Situationen wie Familienfeste mit der Großfamilie, die einer Vergangenheit angehören, in der Niclas noch irdisch anwesend war, von mir nicht gut verkraftet, weil mein Sohn dort hinein gehört. In diesen wird die Lücke wieder deutlich sichtbar. Er war immer dabei und ist es jetzt nicht mehr, während er in dem jetzigen Film eine neue Rolle übernommen hat – eine geistige. Das Loch wurde in mir feinstofflich geschlossen.

Es geht sicher allen ähnlich, die einen solchen Verlust verarbeiten müssen. Es gibt ein Leben davor und ein Leben danach. Ins alte Leben kann man nicht finden, da es nicht mehr existiert. Enttäuschung ist vorprogrammiert. Also müssen wir uns ein neues Feld suchen, das wir bepflanzen können. Das alte fällt darum nicht weg. Von unserem neuen Standpunkt aus können wir das alte überschauen und bereichern, nicht umgedreht. Unsere Vergangenheit hat nicht mehr das zu bieten, was uns vorher lebendig machte. Wir sind jetzt diejenigen mit der Stärke und dem neuen Weitblick. Wir erwarten Hilfe von denen, die vorher an unserer Seite waren, dabei sind wir jetzt in der Position, ihnen von dem etwas abzugeben, was wir inzwischen erlangt haben – Erfahrung, Einsicht, Erkenntnisse und Weisheit. Die Stütze, die wir suchen und brauchen, finden wir nur in unserer neuen Welt und auf noch höheren Ebenen. Das müssen wir begreifen, um ins Handeln gehen zu können. Unser Freundeskreis wird es bemerken. Sie haben zu lernen, dass Trauer nicht herunterziehen muss, sondern bereichern kann. Wenn wir schon dieses Leid auf uns nehmen, dass sich andere ersparen dürfen, dann können sie froh sein über den Kontakt, den sie mit uns haben dürfen, denn wir bringen durch unsere Umwandlung Licht in die Dunkelheit, nicht Dunkelheit in ihr Licht. Wenn sie Interesse an uns haben, hören sie zu, was wir zu sagen haben. Und das kann sie nur bereichern. Darum muss sich niemand schämen und als Zumutung empfinden, der in Trauer ist. Trauer erzeugt immer einen Wachstumsschub. Die meisten wollen darüber sprechen und sich nicht einigeln und abkapseln. Wir sind alle gemeinsam unterwegs.

Unsere Kinder sind nicht ersetzbar, nichts wird einfach so von alleine besser. Wir müssen hart an uns arbeiten und uns unserer Transformation nicht in den Weg stellen. Trotz Wachstum löst sich in diesem Leben der Knoten nicht, der uns die Luft zum Atmen nimmt. Wir tragen diesen Verlust bis zum Ende schweren Herzens in uns. Jeder, der mit so etwas konfrontiert wird, muss für sich einen ganz eigenen Weg finden, um weiterleben zu können. Der Überlebenstrieb ist, Gott sei Dank, doch meist größer als die Verzweiflung. Und darum lassen wir uns auf Wachtum ein, denn es bleibt uns nichts anderes übrig, als entweder zu wachsen oder zu vergehen. Ja, wir haben diesen Schmerz, aber ist es nicht so, dass wir Schmerzen besser ertragen können, wenn wir wissen, wofür wir sie erleiden? Unterziehe ich mich einer Operation, muss ich zwar auch aushalten, was mit mir gemacht wird, weiß aber letztendlich, wofür ich das tapfer ertrage, und dass es nachher eine Chance auf Heilung gibt. Bei dieser Heilung können uns unsere Freunde unterstützen. Es hilft uns nämlich, wenn wir sehen, wie sie mitwachsen. Gehen wir, gehen diejenigen, die uns nahe sein wollen, automatisch mit. Wir tun das ja auch für unsere verstorbenen Kinder, und zwar aus Liebe. Sie braucht es, damit Veränderung gewollt ist und in uns stattfinden kann. Wer schon einmal Entenjungen beobachtet hat, wie sie vertrauensvoll ihrer Mutter folgen, weil sie die Lebenserfahrung hat, der kann verstehen, dass man jeden Menschen seinen Weg gehen lassen muss und nur bei ihm bleiben kann, wenn man mitgeht. Wer das nicht möchte oder kann, der muss leider zurück bleiben, uns weiterziehen lassen und sich anders orientieren, denn Beziehung besteht aus Geben und Nehmen. Man muss etwas miteinander anfangen können, damit die Bindung Bestand hat. Beziehungen bestehen nur so lange, wie sie sich gut tun und befruchtend sind. Für uns ist  die alte Realität Vergangenheit. Sie ist durchlebt worden und hat sich aufgelöst. Keiner kann uns dahin zurückbringen.

Es kommt nicht von Ungefähr, dass ich nach meinen eigenen Erfahrungen mit Trauer und dem Umgang damit in der Trauerbegleitung arbeiten möchte. Auch wenn für mich selbst der Weg ein anderer war und ich diese psychologische Hilfe von Fachleuten nicht in Anspruch nehmen konnte, so habe ich doch inzwischen mitbekommen, dass ich mit meiner Umgehensweise, mir so viel Wissen wie möglich darüber anzueignen und in mir zu verarbeiten, auch andere Menschen inzwischen bereichern kann, aber auch denjenigen Mut gebe, die leichtere Probleme verarbeiten müssen. Wenn sie sehen, was alles bewältigt werden kann mit der richtigen Einstellung im Gepäck, wird die Last nicht mehr als so schwer empfunden. Ich kann ihnen helfen, vieles in einem neuen Licht zu sehen, weil ich gelernt habe, zu dolmetschen. Damit habe ich eine Brücke zwischen den Welten schlagen können, und das ist auch der Grund, warum ich meinen Weg veröffentliche. Es ist Niclas´ Geschenk an uns und deshalb so wertvoll für mich, diese tiefe Erkenntnisse aus den schmerzlichen Umständen zu ziehen. Möge jeder für sich so viel Kraft daraus erlangen, wie ihm möglich ist. Ich kann niemandem seine Trauer abnehmen, aber ich kann den fremden und andersartigen Blick mit jemandem teilen, der neu auf dem Berg steht und sich fragt, warum die Welt von hier aus so anders aussieht. Zusammen entdeckt man mehr. Wer sieht, kann Ängste loslassen, wer Ängste loslassen kann, verliert auch Last. Das ist das, wovon wir uns  trennen können, nicht von der Liebe zu unserem verstorbenen Kind. Wer das bedenkt, kann Trauer auch als einen wertvollen Weg sehen, der uns Möglichkeiten eröffnet, die andere nicht haben. Es wäre schön, an dieses Ziel zusammen zu gelangen.

Von Herzen in meinem und in Niclas´ Namen

Eure Claudia

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